12.2.2017 / 15.00 Uhr
Bild von Davide Ragusa
Vergangene Woche erschien in der FAZ ein kritischer Beitrag über die Technische Analyse (hier gehts zum Originalbeitrag “Vorsicht vor Charttechnikern”). Darin beschreibt Professor Beck von der Hochschule Pforzheim, weshalb diese Disziplin aus seiner Sicht keinen Mehrwert bringt. Ein guter Anlass, sich an dieser Stelle mit dem Thema auseinanderzusetzen. Nachfolgend eine kommentierte Übersicht der wichtigsten Argumente aus dem Beitrag:
“An den Finanzmärkten nennt man diese Art der Prognose „Technische Analyse“. Der Begriff bezeichnet ein buntes Sammelsurium verschiedener Techniken und Methoden, denen gemeinsam ist, dass sie versuchen, in der Vergangenheit Muster zu finden, die sich in der Zukunft so wieder ereignen werden. “
Stimmt. Mehr als die Vergangenheit steht dem Technischen Analysten nämlich nicht zur Verfügung. Das gilt auch für alle anderen Disziplinen. Was hier allerdings vergessen wird, ist die Tatsache, dass alle verfügbaren Informationen – ökonomischer, politischer und psychologischer Natur – bereits im Kurs enthalten sind, auch Insider-Informationen. Und genau das macht die Preisinformation ja so wertvoll für die Analyse!
“Verfechter der Technischen Analyse verweisen auf die Gewinne, die mancher Analyst damit macht. Doch als Erfolgsausweis taugt dieses Argument nicht, unterschlägt es doch die vielen Technischen Analysten, die mit dieser Methode eine Bauchlandung hinlegen und mit ihr Verluste machen.”
Dass 100% der Anwender der Technischen Analyse deshalb auch automatisch profitabel handeln, ist nicht der Fall. Es kommt eben auch das Können, die Kompetenz und Disziplin an. In allen anderen Bereichen ist das aber nicht anders: Ist die Schulmedizin etwa wertlos, nur weil ein Teil der Mediziner bei OPs pfuscht oder Fehler bei der Diagnose macht?
Wichtiger Punkt: Aus meiner Sicht sollte man immer auch zwischen Analyst und Trader unterscheiden! Um Geld zu verdienen, sollte man einerseits die Technische Analyse verstehen, aber auch wissen, wie man die daraus gewonnenen Erkenntnisse gewinnbringend in die Tat umsetzt. Nur weil eine Trendlinie gebrochen wurde, heißt das nicht, dass wir bereits einen erfolgreichen Handelsplan haben. Denn weder der Stop, die Positionsgröße noch die Ausstiegsmethode sind damit definiert. Genau diese Punkte machen aber den Unterschied in der Performance.
“Auch der Hinweis, dass viele Wertpapier- oder Devisenkurse den gleichen charttechnischen Gesetzmäßigkeiten folgen, taugt wenig als Beleg für die Prognosekraft der charttechnischen Methode. Unter den Milliarden täglicher Kursdaten finden sich, durch den Zufall bedingt, Kursverläufe, die sich ähneln. Als Beweis für ewige, sich immer wiederholende Muster, die auf Gottes Plan deuten, taugt das nicht. Solange hinter dem Kursverlauf keine überprüfbare Theorie steht, muss man damit rechnen, dass dies schlichtweg Zufall ist.”
Der Faktor Zufall spielt eine große Rolle, völlig richtig. Wäre der Aktienmarktverlauf aber völlig zufällig (genau das lehrt die akademische Welt unter dem Begriff “Random Walk”), sollten die Renditen eines Marktes eine perfekte Glockenkurve ergeben, also eine Normalverteilung nach Gauß. Dies ist jedoch nicht der Fall. Wissenschaftliche Studien zum Momentum-Effekt belegen dies eindeutig. Kann jeder übrigens einfach in Excel nachrechnen – Stichwort Autokorrelation.
“Da sich die Methoden der Technischen Analyse zudem ja nach eigenem Bekunden auf jede Art von Skala anwenden lassen, lassen sich je nachdem, welche Skalierung man für die Achsen wählt (Stunden, Tage, Wochen, Monate), beinahe beliebig viele Muster finden. Psychologisch betrachtet, kann man hier auf den sogenannten Bestätigungsirrtum verweisen: Wer erwartet, bestimmte Muster in Wertpapierkursen zu finden, wird diese auch entdecken und ausschließen, dass es sich bei diesen Mustern um Zufall handelt.”
Diese Aussage stimmt, jedenfalls wenn es um die Anwendung spartanischer Werkzeuge wie Trendlinien geht, die oftmals von Anwender zu Anwender anders eingezeichnet werden oder um subjektive Kursmuster, die nicht quantitativ definiert werden können. Wenn man objektive Werkzeuge (z.B. Indikatoren, Swing Points) heranzieht und diese in einem 100% sauberen Regelwerk implementiert, lassen sich wirkliche Patterns extrahieren und das psychologische Problem des “Confirmation Bias” eliminieren.
“Nun bemühen Charttechniker gerne eine Erklärung für die Wirkung ihrer Disziplin. Charts, so das Argument, spiegeln menschliches Verhalten wider, und das wiederholt sich in bestimmten Situationen. Angesichts der Verschiedenheit des Charakters und Verhaltens des Einzelnen und eingedenk der Millionen Variablen, die dieses Verhalten und sein Umfeld beeinflussen, ist das eine optimistische Annahme – abgesehen davon, dass sich auch menschliches Verhalten über die Jahre ändert.”
Genau das ist ja auch eine der Prämissen der Technischen Analyse. Sie basiert u.a. auf der Annahme, dass bestimmte Muster auftreten und sich wiederholen (nicht exakt, aber in ähnlicher Form). Dies ist auf Emotionen wie Gier und Angst zurückzuführen. Ich glaube nicht, dass sich das Verhalten der Masse (und um die geht es an den Märkten, nicht den Einzelnen) großartig verändert, dafür sind diese zu stark über zu lange Zeiträume in unserer DNS eingebrannt worden worden. Wer den Kursverlauf des Neuer-Markt-Crashes mit dem Verlauf der Tulpenblase aus dem 17. Jahrhundert anschaut, weiß, was ich meine. Leider hat die Volkswirtschaftslehre verhaltenswissenschaftliche Ansätze, die die zentrale Bedeutung der psychologischen Komponente beschreiben, viel zu lange ignoriert. Und tut dies teilweise bis heute. Schade, dass die Erkenntnisse von Daniel Kahnemann und Co. noch nicht in dem erforderlichen Maße Einzug in die Volkswirtschaft halten.
“Bleibt als letzter Trumpf in Händen der Verfechter der Technischen Analyse die Idee der selbsterfüllenden Prophezeiung. Wenn alle Marktteilnehmer aufgrund einer bestimmten Chartsituation steigende Kurse erwarten, werden sie kaufen und damit die Kurse nach oben treiben. Allein der Glaube an die Wirkungsmacht der Technischen Analyse könnte dann aus ihr eine selbsterfüllende Prophezeiung machen. Allerdings funktioniert das nur, wenn alle Marktteilnehmer die Prognosen der Chartanalyse kennen und daran glauben. Auf große Aktienmärkte wie den Dax oder auf dem Devisenmarkt, auf dem Dollar und Euro gehandelt werden, dürfte das nicht zutreffen.”
Schwaches Argument. Hierfür reicht es schließlich aus, wenn bereits ein Teil der Marktteilnehmer an die Technische Analyse glaubt und danach handelt. Dass alle Marktteilnehmer die “Prognosen der Chartanalyse kennen und daran glauben” ist so gut wie unmöglich. An den Märkten tummeln sich nämlich immer sehr viele unterschiedliche Marktteilnehmer, die a) unterschiedliche Motive haben, b) unterschiedliche Analysemethoden verwenden und c) unterschiedliche Zeitrahmen handeln. Damit ein Kurs überhaupt entsteht, MUSS es immer einen Marktteilnehmer geben, der kaufen will und einen anderen, der verkaufen will.
“Unter dem Strich ist den Ideen der Technischen Analyse darum mit großer Skepsis zu begegnen. Umso mehr erstaunt es, dass diese Disziplin so viele Anhänger hat. Woran liegt das? Zum einen dürfte der Erfolg einiger Chartanalysten alle anderen Verfechter dieser Methode blenden – auch wenn der Erfolg wahrscheinlich rein zufällig zustande gekommen ist.”
Dass diese Disziplin aber so viele Anhänger hat (man siehe sich einfach in einem Handelsraum um), liegt meines Erachtens daran, dass wenige/keine alternativen Ansätze gibt, die hundertprozentigen oder zumindest höheren Erfolg versprechen – ganz nach dem Motto “the best neighbour in a bad neighbourhood”. Oder sind Fundamentalanalysen, Konjunkturprognosen oder Astrologie usw. etwa erfolgversprechender?
“Die Evolution hat unser Gehirn geschaffen für Tätigkeiten wie Jagen oder Sammeln, aber nicht für die Jagd nach Rendite. Zinsen, Bilanzen, Wechselkurse, die richtige Portfoliokonstruktion – das menschliche Gehirn ist nicht geeignet für solche Gedankenakrobatik, und noch weniger ist es geschaffen für die Komplexität moderner Finanzmärkte.”
Korrekt, genau diese Komplexität überfordert uns als Anleger und Trader und resultiert immer wieder in Fehlentscheidungen. Gerade deshalb ist es wichtig, den Einfluss von irrationalen Verhaltensmustern auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Das geht nur mit klaren, im Vorfeld getesteten Regeln und Maßnahmen zur Begrenzung des Risikos. Und genau dafür liefert die Technische Analyse viele sinnvolle Tools.
“Wenn ein Problem zu komplex wird, suchen wir lieber nach einfachen Lösungen, um uns die Welt so zurechtzubiegen, dass wir glauben, sie verstehen und bewältigen zu können. Würde sich der Mensch eingestehen, wie hilf- und ahnungslos er dem Wüten des Zufalls ausgeliefert ist, wäre er überfordert. Also sucht er nach einem Ausweg, um die Welt in seinen Augen überschaubar und beherrschbar zu machen. Verspricht die Analyse zudem das, was wir glauben möchten, erhöht sich das seelische Wohlbefinden zusätzlich.”
Klar, wir alle suchen nach Harmonie und unterliegen dem sog. Kontrollmotiv und zwar unabhängig davon, ob wir über den Ausgang der nächsten Wahl oder die Entwicklung eines Marktes spekulieren. Wir wollen das Gefühl haben, dass unsere Umwelt zumindest teilweise in unserer Kontrolle liegt. Genau deshalb macht es eben Sinn, einen Plan zu entwickeln, der auch geeignete Maßnahmen für den Fall einer Fehlprognose enthält (wobei die Technische Analyse aus meiner Sicht keine Prognosen macht, sondern Szenarien aus der Vergangenheit ableitet). Dass der Zufall an den Märkten eine große Rolle spielt, wissen übrigens die (meisten) Trader. Sonst würden sie bei jedem Trade “all in” gehen oder?
“Hier hat die Technische Analyse Charme: Mit einfachen Werkzeugen – Lineal, Bleistift und einer Liste technischer Kursformationen – ordnet man die verwirrende Welt der Finanzmärkte. Das Chaos weicht geometrischen Formen, die unser Gehirn zufriedenstellen, das nach solchen Mustern süchtig ist.”
Hier wird mal wieder der Fehler gemacht, dass die Technische Analyse allein auf Kursformationen und Linien reduziert wird. Der Werkzeugkasten technisch orientierter Trader ist in der Realität viel umfangreicher. Dafür sollte man sich aber schon etwas tiefgründer mit dem Thema befassen. Darüber hinaus entscheidet auch die richtige Anwendung und Kombination der Werkzeuge (Stichwort “Superadditivität”) in hohem Maße über Erfolg und Misserfolg. Glauben die Kritiker der Technischen Analyse im Ernst, dass ein professioneller Prop-Trader nur mit Trendlinien und Co. arbeitet?
In diesem Sinne: Die Technische Analyse ist alles andere als perfekt und schon gar nicht eine Glaskugel, die uns sagt, was morgen oder in einem Jahr an den Märkten passieren wird. Wir werden nie wissen, was die Zukunft bringt und das ist wohl auch gut so, sonst wäre das Leben zu langweilig. Um erfolgreich an den Märkten zu agieren, muss man die Zukunft aber gar nicht kennen, es geht vielmehr um das Herausarbeiten von Wenn-Dann-Szenarien und Wahrscheinlichkeiten, die gemeinsam das Ziel haben, das Timing beim Ein- und Ausstieg zu verbessern. Perfektion ist hier gar nicht das Ziel und auch nicht möglich, weil die Kapitalmärkte kein naturwissenschaftliches Phänomen wie die Berechnung des Sonnenaufgangs sind, sondern eine massenpsychologische Veranstaltung mit diversen Rückkopplungen und Noise – vor allem auf kurzfristigen Zeiteinheiten. Dafür haben wir ja Stops und die richtige Positionsgröße. Gewisse Dinge – z.B. Trends – tauchen an den Märkten aber immer wieder auf und können deshalb profitabel genutzt werden.
Es geht also gar nicht, die Technische Analyse zum Allheilmittel zu erklären oder andere Analysetechniken zu diskreditieren. So hat die Fundamentalanalyse aus meiner Sicht neben ihren Schwächen auch Stärken. Zu ersteren gehört allerdings der Timing-Faktor. Und gerade deshalb ist hat die Technische Analyse für Trader die Nase vorn.